Freitag, 22. Februar 2008

Russische Märchenwelten (1)

Vom Schwesterlein Aljonuschka und Brüderlein Iwanuschka

Es lebten einmal ein Mann und eine Frau, die hatten ein Töchterlein, das hieß Aljonuschka, und einen kleinen Sohn mit Namen Iwanuschka. Doch bald starben die Eltern, und die beiden Kinder blieben mutterseelenallein in der Welt zurück. Aljonuschka ging bei fremden Leuten Arbeit suchen; das kleine Brüderchen nahm sie mit. Lang war der Weg, über ein weites Feld führte er, und da verspürte Iwanuschka großen Durst.

„Aljonuschka, mein Schwesterlein, ich will trinken.“ „Warte, Brüderchen, bis wir zu einem Brunnen kommen.“ Und sie wanderten weiter. Hoch steht die Sonne am Himmelszelt, nirgends ein Brunnen weit und breit, der Wind weht heiß, es rinnt der Schweiß. Ist da am Weg die Spur einer Kälberklaue eingedrückt, die steht voll Wasser. „Schwesterchen Aljonuschka, lass mich aus der Spur trinken.“ „Tu es nicht, Brüderchen. Du wirst sonst ein Kälbchen.“ Iwanuschka gehorchte, und sie schritten weiter.

Hoch steht die Sonne am Himmelszelt, nirgends ein Brunnen weit und breit, der Wind weht heiß, es rinnt der Schweiß. Da sahen sie die Spur eines Pferdehufs, die war auch mit Wasser gefüllt. „Schwesterchen Aljonuschka, lass mich aus dem Huf trinken.“ „Tu es nicht, Brüderchen. Du wirst sonst ein Fohlen.“ Iwanuschka seufzte, und sie gingen weiter.

Wieder wanderten sie ein großes Stück. Hoch steht die Sonne am Himmelszelt, nirgends ein Brunnen weit und breit, der Wind weht heiß, es rinnt der Schweiß. Da kamen sie zur Spur eines Ziegenhufs, die stand voll Wasser. Iwanuschka sprach: „Schwesterlein Aljonuschka, ich kann nicht mehr, ich muss aus diesem Huf trinken.“ „Tu es nicht, Brüderchen, du wirst ein Böcklein.“ Doch Iwanuschka hörte nicht auf sie und trank.

Und als er aus dem Ziegenhuf getrunken hatte, verwandelte er sich in ein Böcklein...

Aljonuschka rief das Brüderchen, doch statt seiner kam ein kleiner weißer Ziegenbock auf sie zugesprungen.

Da vergoss Aljonuschka heiße Tränen. Sie sank in einen Heustoß, weinte bitter und lang, während das Böcklein munter um sie sprang.

Kam da ein Kaufmann in seinem Wagen des Weges daher. „Warum weinst du, schönes Magdlein?“ Aljonuschka klagte ihm ihr Unglück. Der Kaufmann sprach: „Werd mein Weib, ich will dich in Samt und Seide kleiden, und das Böcklein soll immer bei uns bleiben.“ Aljonuschka dachte ein Weilchen nach und wurde des Kaufmanns Frau. So lebten sie denn miteinander in Glück und Eintracht, und das Böcklein wohnte auch bei ihnen und aß von Aljonuschkas Teller.

Doch eines Tags, als der Kaufmann fort war, kam eine Hexe. Sie stellte sich vor Aljonuschkas Fenster und lockte sie mit süßer Stimme zum Baden. Aljonuschka folgte ihr an den Fluss. Die Hexe fiel über Aljonuschka her, band ihr einen Stein um den Hals und stieß sie ins Wasser. So getan, nahm sie flugs Aljonuschkas Gestalt an, kleidete sich in deren Gewänder und ging in das Haus des Kaufmanns, wo sie niemand erkannte. Auch der Kaufmann merkte nichts, als er von seiner Reise zurückkam. Nur das Böcklein wusste alles. Es ließ den Kopf hängen, aß und trank nicht. Morgens und abends lief es am Fluss entlang, dicht beim Wasser, und rief:

„Aljonuschka, lieb’ Schwester mein, / Steige aus dem Wasser fein...“

Der Hexe kam das zu Ohren, und sie ließ dem Kaufmann keine Ruh’, er sollte das Böcklein schlachten und braten. Dem tat das Tierchen leid, er hatte es ins Herz geschlossen, doch die Hexe ließ nicht ab, sie bedrängte ihn immer wieder, bis der Kaufmann schließlich nachgab. „Na, gut schon, schlachte das Böcklein...“ Da ließ die Hexe großes Feuer anmachen, in eisernen Kesseln Wasser kochen und stählerne Messer schleifen. Als das Böcklein sah, dass es ihm ans Leben gehen sollte, sprach es zu seinem Pflegevater: „Lass mich noch einmal zum Wasser vor dem Tod, damit ich mich satt trinke und meine Gedärme spüle.“ „Lauf hin“, sagte der Kaufmann. So lief das Böcklein zum Fluss. Vom Ufer rief es mit klagender Stimme:

„Aljonuschka, lieb’ Schwester mein,
Steige aus dem Wasser fein.
Schon schleift man das Messer,
Schon kochet das Wasser,
Schon brennt das Feuer rot,
Bald bin ich tot.“

Und eine Stimme kam aus der Tiefe:
„Ach, Bruder mein, Iwan,
dass ich nicht kommen kann.
Es hängt an meinem Hals der Stein,
Es hält die Alge grün mein Bein,
Und gelber Sand deckt mein Gewand.“

Die Hexe suchte indes überall nach dem Böcklein. Als sie es nirgends fand, schickte sie einen Knecht aus.

„Find mir das Böcklein und bring es her.“ Der Knecht ging zum Fluss, dort sah er das Böcklein am Ufer hin und her laufen und hörte es gar herzzerreißend rufen:
„Aljonuschka, lieb’ Schwester mein,
Steige aus dem Wasser fein.
Schon schleift man das Messer,
Schon kochet das Wasser,
Schon brennt das Feuer rot,
Bald bin ich tot.“

Und aus dem Fluss kam dumpf die Antwort:

„Ach, Bruder mein, Iwan,
dass ich nicht kommen kann,
Es hängt an meinem Hals der Stein,
Es hält die Alge grün mein Bein,
Und gelber Sand deckt mein Gewand.“

Da rannte der Knecht nach Haus und erzählte dem Kaufmann, was er gehört und gesehen hatte. Gleich rief man Leute zusammen, und alle machten sich zum Fluss auf. Mit seidenen Netzen fischte man und zog die tote Aljonuschka auf den Sand. Den Stein schnitt man ab von ihrem Hals, übergoss sie mit frischem Quellwasser, kleidete sie in ein schönes Gewand. Da kehrte das Leben zu ihr zurück, und sie erstand schöner und anmutiger noch als zuvor. Das Böcklein aber überkugelte sich vor Freude dreimal in der Luft, und da wurde es wieder zum Knaben Iwanuschka.

Die böse Hexe jedoch band man an den Schweif eines wilden Rosses und ließ es laufen über Stock und Stein.

Zur russischen Version:

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